Bist du sicher, dass es geht? Nora nickte erneut und erwiderte die Abschiedsumarmung ihrer Freundin. Vom Balkon aus winkte sie Emma zu, bis sie sie nicht mehr sehen konnte. Warum gibt es im Leben keine Löschtaste?, fragte sie sich. Die letzten paar Wochen? Delete! Oder vielleicht gar die letzten vier Jahre?
Sie ließ sich aufs Sofa fallen. Endlich allein. Allein mit einer vollgestopften Schuhschachtel auf dem Fussboden und einer Blumenvase auf dem Beistelltisch. Braun das Wasser, gelb die Blumen. Sie verschwendeten keinen Blick mehr zur untergehenden Sonne, deren Namen sie trugen. An gebeugten Stängeln blickten ihre Blüten zu Boden. Wie ich, dachte Nora und stand auf. Sie trug die Vase in die Küche, knickte die Stiele in der Mitte und stopfte die Pflanzen in den Abfall. Das Wasser floss eiliger als nötig zum Abfluss. Als ob es nie da gewesen wäre.
Sie setzte sich wieder hin. Die Schachtel stand noch immer am Boden. Bis zum Rand gefüllt mit Karten. Alle für sie. Ob sie so viel Mitgefühl ertrug? Sie stand wieder auf, ging auf den Balkon. Das Paket auf dem Fenstersims war fast leer, die letzte Zigarette klemmte, wehrte sich vergeblich. Im Aschenbecher die Spuren der letzten Tage. Von Emma, Johanna, Ingrid, Tom, Theo. Auch vom einen der beiden Polizeibeamten, demjenigen, der keine Kinder hatte. Der andere war Nichtraucher.
Seit ich Vater geworden bin. Sie wissen … Ja, sie wusste.
Sie hatte auch aufgehört. Damals. Und jetzt wieder angefangen. Logisch irgendwie.
Die Sonne versank rot hinter den Nachbarhäusern. Die Julihitze ließ über Nacht kaum merklich nach, dennoch fror Nora ständig. Sie trug sogar tagsüber eine wollene Jacke.
Das Telefon klingelte. Wie froh sie war, einen großen Bruder wie Tom zu haben. Und eine Schwägerin wie Patricia. Was hätte sie ohne die beiden getan? Und ohne ihre Freunde und Freundinnen?
Nein, ich frage dich nicht, wie es dir geht!, sagte er gleich zu Anfang.
Danke, schlecht, und dir?, sagte Nora. Nein, den Humor hatte sie nicht verloren. Ein kleiner Schwimmring.
Als sie fünf Minuten später wieder auf dem Sofa saß, wusste Nora nicht mehr, worüber Tom und sie gesprochen hatten. Sie wusste nur, dass es ihr ein bisschen besser, ein bisschen weniger schlecht ging. Aufwandminderung, dachte sie.
Aufwand und Ertrag. Würde sie über Verluste und Schmerz Buch führen, wäre sie zurzeit arg in den roten Zahlen. Trotz der unzähligen Umarmungen der letzten Tage. Sie hatte begriffen, was für wunderbare Menschen sie kannte. Immerhin etwas Positives. Auch, dass ihre Eltern das alles nicht hatten miterleben müssen.
Sie stellte die Schachtel, die schwer auf ihren Oberschenkeln gewogen hatte, zurück auf den Boden und stand wieder auf. Sie fischte im Büchergestell nach einem dicken Ordner.
Konnte sie … ? Wie gefährlich war das Betrachten eines Fotoalbums? Welche Gefahren drohten? Überschwemmung war die wohl wahrscheinlichste. Feuersbrunst, innere, die zweitgrößte. Sterben würde sie daran nicht. Schade.
Auf der Titelseite LEO. In Großbuchstaben. Und das Geburtsdatum. Gleich auf der ersten Innenseite die Geburtsanzeige. Der Versuchung, das Album wieder zuzuklappen, widerstand sie. Da muss ich durch, sagte sie sich. Das erste Bild zeigte Leo und sie. Zerknittert und runzlig, rosa und feucht wie er war, in ein weißes Tuch gehüllt, lag er an ihrer Brust. In ihrem tränennassen Gesicht waren neben Erschöpfung auch Freude und Dankbarkeit zu lesen. Drei Jahre war es her. Weiterblättern ging nicht. Die Seiten waren zu schwer. Ein Bild musste reichen.
Jene Schmerzen, die zum ersten Gemeinschaftswerk von Mutter und Kind gehören, hatten einen Namen, der unmissverständlich verdeutlichte, wie weh Gebären tat. Ob das Kind dabei ebenso leidet wie die Mutter?, fragte sich Nora jetzt. Immerhin verließ es sein warmes Nest. Wieder litt Nora Wehen, wieder presste sie ihr Kind in eine neue Daseinsform. Fern jeglicher Materie diesmal. Himmel, Paradies. Ewigkeit. Nirwana. Nichts. Alles. Ob die Risse dieser Geburt je zuwachsen würden?
Sie schloss das Album. Dass sie ständig weinte, war bereits normal. Was auch immer das hieß. Waren das auch diese kleinen weißen Pillen, die sie vor dem Zubettgehen einwarf?
Hör doch mit dem Selbstmitleid auf, Nora. Es bringt nichts. Geh jetzt zu Bett!
Wann hatte sie angefangen, mit sich selber zu sprechen? War es in jenen Tagen gewesen, als Leo allein bei Sandro war? Wie ungewohnt war es doch gewesen, nach den Familienjahren plötzlich ganze Tage ohne ihre beiden Männer zu sein. Wobei sie den Großen am liebsten auf den Mond geschickt hätte. Ungewohnt und schwierig war es, wieder selber denken zu sollen, sich aus Sandros dominanter Präsenz zu lösen, eigene Entscheidungen zu treffen. Angefangen bei der Wahl des Kühlschrankinhalts bis hin zum Auslesen der Zahnpastamarke.
Traurig blinzelte sie ihrem Spiegelbild zu, dem der Schaum um den Mund ein clowneskes Aussehen verlieh. Die Zahnbürste schrubbte und die Erinnerungen drehten sich mehr und mehr im Kreis. Die Wirkung der Tablette setzte ein.
Der nächste Morgen fand sie verkatert. Nein, nicht Kater. Anderes Chaos, an das sie sich nicht erinnern wollte. Sie schüttelte sie erfolglos ab, die angebliche Wahrheit, die sich an ihr festklammerte. Die sie ungefragt umarmte und an ihrem Herzen rumschnipselte. Malte Schwärze vor ihre Augen. Gnädiger Taumel zog sie zurück über die Brücke. Chemieseidank. Nicht erwachen. Keine Wahrheiten denken. Den roten Faden, im Stolpern gefunden, ließ sie nicht mehr los. Hangelte sich zurück. Gestern. Zurück. Vorgestern. Noch weiter. Nun fand sie den Schalter, die schnelle Rückwärts-Taste, und drückte zu.
Film ab. Szene eins: Freitagnachmittag vor zwei Wochen. Nora, die Wohnung putzend und sich auf ihren kleinen Sohn freuend, der bei Papa war. Morgen würde er zurück nach Hause kommen. Szene zwei: Nora, Freitagmorgen, beim Frühstück. Danach beim Aufstehen und nachher am Abend vorher. Tage spulen an ihr vorbei. Und Wochen. Vorwärts in die Vergangenheit. Immer schneller.
Unvermeidlich war sie gewesen, die Trennung. Zuvor endloser Beziehungshorror, gärende Kompromisse, Eskalationen. Eine Beziehung wie andere, verkeilt in Sackgassen. Immer schneller lösen sich die Filmsequenzen ab. Helle Farben nun. Kleine Weile heile Welt. Leo als Baby. Die ersten Worte. Die ersten Schritte. Das erste Lachen. Der erste Schrei. Die Geburt. Der dicke Bauch. Auf ihrer inneren Leinwand wohnte sie Leos Zeugung bei. Als Zuschauerin ebenso wie als Beteiligte. Nahm die damalige Leidenschaft wahr, sah Leos Vater und sich selbst beim ersten Mal. Beim ersten Kuss. In kräftigen Farben. Die erste Begegnung. Zeitlupe. Amors dorniger Pfeil hatte getroffen.
Am roten Faden zog sie sich weiter zurück. Mal spiralig, mal chronologisch. War da und dort. Oben, unten, innen, außen. Menschen. Freundinnen. Andere Männer. Geschwister. Mal vielfarbig, mal schwarzweiß. Arbeitsstellen. Ausbildungsjahre. Abschlussprüfungen. Schulstunden. Sie konnte sich auf dem Nachhauseweg von der Schule sehen, mit dem ersten Freund an der Hausecke. Der erste Kuss. Sah die Eltern, die sie tadelten, weil sie zu spät war. Egal! Sie war schließlich kein Kind mehr! Doch nun – die nächste Szene – war das Kind, das kein Kind mehr war, wieder Kind. Spielte im Wald. Kletterte auf Bäume. Fiel um. Stand auf. Saß auf dem Schoss des Vaters und las erste Buchstaben. Kritzelte Zeichnungen auf die Schiefertafel. Spielte mit Puppen und Bären. Wurde von den älteren Geschwistern gehätschelt und getriezt, gekitzelt und gefoppt.
Schließlich hatte sie wieder in ihrer Wiege Platz und schlüpfte gleich darauf durch den Geburtskanal in die Gebärmutter zurück. Warm war es dort. Behaglich. Sie badete im All. Zuhause sein. Ruhe. Paradies? Sie war die kleine Explosion geworden, die Samen und Ei verzaubert und verwebt hatte, hieß nun Zellteilung und Zelle zugleich. War alles. Nichts. Zuerst. Zuletzt. Alle Möglichkeiten. War die Antwort auf eine Frage, die sie nicht kannte. Urknall. Input und Output. Und deren Schnittstelle. Alles, was je war, ist und wird. Alles da.
Der rechte Fuß war eingeschlafen und weckte sie auf. Ameisen unter der Decke. Sie setze sich zusammen. Das Mittel ließ nach. Sie streckte das Bein. Es gehorchte. Antwortete mit einem Krampf. Fremdes Bein, das sie nun schüttelte. Teil von ihr? Wie bei einem Rechner, der aufstartete, erschienen allmählich Programme. Ihre Software. Einzelteile. Erinnerungen.
Wie die Kisten, die noch unausgepackt seit dem Umzug in der neuen Wohnung standen. Noch nicht lange war sie hier. Noch war nicht alles an seinem Ort. Was egal war, sie wollte doch bloß zwei Wochen zurück spulen! Ihren Sohn wollte sie. Lebendig.
WUT. Sie durchbohrte ihre Rippen von innen nach außen. Und das Herz quer zur Faser. Sie keuchte, bekam keine Luft mehr und sank ins Kissen. Wut wuchs, füllte allen Raum. Innen und außen. Tränen versuchten vergeblich, sie weichzuspülen.
BLANKE WUT. Zwei fremde, unbesetzte Wörter, in die sie sich verbiss, bis sie verblassten und vergaßen, was sie waren. Wie Nora selber. Ein Klumpen, mitten im Bauch, erwachte, dehnte sich aus. Direkt hinter dem Nabel. Stieß Glutwellen durch ihren Körper. Bis zu den Zehenspitzen. Hitze, die ihre Haut von innen verätzte und ihren Magen verbrannte. Am ganzen Körper Juckreiz. Wieso konnte sie nicht schreien? Sie hasste sich dafür, dass sie Sandros Pläne nicht vorausgeahnt und verhindert hatte.
Diesmal klemmte die Rückwärts-Taste, reichte nur noch bis zu jenem Samstagabend vor zwei Wochen. Bis zum Anruf von der Polizei. Neben dem Telefontisch war sie zu Boden gerutscht. Mit dem Rücken zur Wand. Den Hörer in der Hand. Irritierendes Tuten. Wie lange? Irgendwann wählte sie die Nummer ihrer Freundin Emma, die im gleichen Quartier wohnt. Die erste Speichertaste. Später riss der Film.
Jetzt. Ein neuer Tag. Morgen. Kater. Nein, nicht Kater. Trauer nannte sich das. Sie sind tot. Aus dem Leben gespickt. Wie sie gekommen sind. Nicht mehr. Nichts mehr. Alles. Wieder alles. Sie schüttelte sich. Noch immer blieb die unerwünschte Wahrheit kleben.
Den Vorhang, sie wollte ihn schließen. Solange er offen stand, dauerte die Vorstellung an. Fiel er zu, würde Leo von der Bühne herunter mitten in ihre Arme fallen. Papa und ich haben tot gespielt, Mama.
Nein, kein Vorhang fiel. Der kleine Sarg lag seit gestern unter der Erde. Ständig waren Freundinnen und Freunde bei ihr ein- und ausgegangen. Emma hatte bis gestern bei ihr übernachtet. Die beiden Ermittler der Polizei waren oft hier gewesen und hatten sich in der Tat als Freunde und Helfer gezeigt. Wie viele Stunden hatte sie mit den zwei Männern auf dem Balkon verbracht! Hatte mit ihnen rauchend, nicht fürs Protokoll, über Sandro gesprochen.
Die Aussagen sämtlicher bisher befragten Freunde und Angehörigen zielten alle in die gleiche Richtung: Sandros Sicherungen mussten durchgebrannt sein. Die psychische Labilität, die schon länger bekannt war, musste sich nach der Trennung vor zwei Monaten verdichtet, manifestiert haben. Kurzschluss. Erweiterter Suizid.
Nun nahm Leos Abwesenheit allen Raum ein. Da war nichts anderes mehr. Innenraum ohne Fenster. Leerer Raum. Leer bis auf die Bürde der Selbstvorwürfe. Die ungeklärte Frage nach der ausgebliebenen Vorahnung. Nach einer verpassten Möglichkeit, das Drama verhindern zu können. Eine bekannte Form von Trauer, hatte die Frau von der Opferberatung gemeint. Normal.
Trauern um Leo – es war ihre Hauptbeschäftigung. Bis zur Trennung war sie Familienfrau gewesen, die Wochen danach auf Stellensuche. Sie bezog Erwerbslosenunterstützung, doch jetzt an eine neue Arbeitsstelle zu denken, ging nicht. Ihre Ärztin hatte sie deshalb krankgeschrieben. Wenn Nora vorwärts schauen wollte, drehte sich alles im Kreis und sie taumelte. Karussell fahren war ihr noch nie gut bekommen. Sie hielt sich an die Leitplanken. Trauern fühlte sich wie Autofahren auf der Autobahn an. Meter für Meter bewegte sie sich vorwärts. Ohne nach rechts oder nach links zu schauen, behielt sie die einmal gewählte Richtung bei. Wohin auch immer. Hauptsache weg. Weg vom Schmerz. Das Steuerrad auf Autopilot. Sie behielt ein stetiges Tempo bei, erlaubte sich kaum Pausen, gab ihrem Leben Form und Struktur. Wozu auch immer.
Alles kann man üben, sagte Nora. Du kannst lernen, den Kopfstand zu machen. Du kannst Muskeln trainieren. Sogar für die Trauerarbeit gibt es Unterstützung. Und fürs Abschied nehmen und Loslassen ebenfalls. Nur das Sterben bringt dir niemand bei. Da müssen wir ganz alleine durch. Ingrid nickte.
Nora zupfte das letzte Taschentuch aus der Schachtel und tupfte sich die Tränen weg. Ingrid legte ihr die Hand auf den Arm. Ihr Schweigen legte sich wie eine Umarmung um ihre Freundin und vermochte, mehr als jedes Taschentuch, Noras Tränen zu trocknen.
Weißt du, ich bin gespannt, wie sich tot sein anfühlt. Und sterben. Manchmal beneide ich die Gestorbenen. Sie haben mir eine Erfahrung voraus.
Du wirst diese Erfahrung machen, glaub mir, doch jetzt ist dein Platz zum Glück noch hier. Ich bin froh, dass du da bist.
Als die Krokusse auf dem Friedhof dem Winter zu trotzen begannen, stellte Nora fest, dass sie wieder Überlandstraßen und Feldwege benutzte. Undeutlich waren ihre Erinnerungen an die letzten Monate, ungefähr, unscharf die Ränder. Jener Schutzpanzer, den der Schock ihr angezogen hatte, war Stück für Stück von ihr abgebrochen. Mit jedem abfallenden Brocken war der Schmerz-See von Neuem übergelaufen und hatte eine weitere Wehenwelle geschickt. Nach jeder einzelnen bluteten die aufgebrochenen Wunden zwar von Neuem, doch jedes Mal ein bisschen weniger. Trotzdem war es nicht die Zeit, die Wunden heilte, dachte Nora bisweilen. Es war die Art und Weise, was wir in dieser Zeit anfingen.
Liebster Leo
Dich zu vermissen, tut noch immer unbeschreiblich weh. Die Sehnsucht nach dir, nach deinem körperlichen Dasein, nach unserem Lachen und unseren Spielen, sie zerreißt mich beinahe. Wie oft bin ich auf der Brücke gestanden und habe voller Heimweh nach dir in den Fluss geschaut. Ob springen einfacher wäre?
Doch an dein Lachen und an deine Lebensfreude zu denken, gibt mir den Mut, hier zu bleiben. Ich ahne, dass du willst, dass es mir gut geht.
Danke, dass ich dich kennen lernen durfte!
Deine Mama Nora, die dich immer lieben wird.
PS: Du hast gewusst, dass das Leben schön sein kann, nicht wahr?
PPS: Ich werde es ebenfalls wieder herausfinden …!“
++++++
erschienen in: Knall auf Fall allein im Cenarius-Verlag, 2011
ISBN: 3-94068019-2