Ich fummle lange, bis ich das Schlüsselloch treffe. Lasse mich erschöpft auf einen Küchenstuhl fallen. Puh, mein Kumpel Erik! Wie erwartet, war er nicht mit leeren Taschen unterwegs. Ich habe nicht viel gekauft, kiffe nur noch selten. Christa soll bloß nicht glauben, dass ich mich gehen lasse. Jedenfalls nicht wegen ihr. Für sie hatte ich am Ende aufgehört. Auch zuvor ein paar Mal.
Wie soll ich dir noch glauben, Dario?, hatte sie gefragt. Worauf soll ich noch vertrauen? Hast du mir je das Gegenteil bewiesen? All deine Versprechen? Keins hast du gehalten …
Wie sollte ich auch, wenn sogar sie mir nicht zutraute, etwas verändern zu können, mein Leben endlich in den Griff zu bekommen, positiver zu denken?
Natürlich hat sie es anders gemeint, ermutigend, doch woher, bitteschön, soll ich den Mut nehmen, mich von einem Tag auf den anderen umzustellen, mir die Welt von heute auf morgen weniger feindselig oder gar freundlich vorzustellen? Wie soll ich auf einmal einen Platz für mich finden? Einen Platz, wo ich weiß, dass es meiner ist. Der nicht drückt. Es ist wie mit guten Schuhen. Wie lange ich suchen muss, bis ich für meinen breiten Fuß einen finde, der nicht weh tut, glaubt mir niemand. Ich habe genug von zu engen Latschen. Lange genug habe ich mir überall Druckstellen eingefangen.
Auf der Brücke haben sie mich aufgelesen. Damals. Mitten in der Nacht. Sie waren zu viert. Der Arzt kam kurz darauf. Sie redeten mir beruhigend zu. Es werde alles gut. Ha! Heute bedaure ich, dass ich nicht gesprungen bin. Gewehrt habe ich mich nicht. Damit habe ich erst später angefangen, zu Hause. Bei Christa. Spät. Zu spät.
Ich krümle den Tabak, der neben der Schale gelandet ist, mit den feuchten Fingerspitzen zusammen und gebe ihn zum Rest der zerbröselten Zigarette. Erik hatte zwar kein Gras, aber Eins-a-Hasch, wie er sagte. Indoor, das ich normalerweise meide. Doch heute ist mir alles egal. Ich brauche nur wenig, das Zeug ist stark. Mit dem Feuerzeug schmelze ich den harten Brocken an, sodass ich ein wenig abbröseln und mit dem Tabak vermischen kann. Ich spüre, wie sich Lust auf den Joint aufbaut. Nein, nicht Lust, Gier. Gier danach, mich anders zu fühlen. Nicht mehr diesen ganze Schrott zu denken, den ich ohne dieses Zeug hier nicht aus dem Kopf bekomme. Beziehungsschrott zum Beispiel. Immer wieder Christa.
Ich habe sie heute gesehen. In der Stadt. Mindestens fünfmal. Kurz hintereinander an ganz verschiedenen Orten. Jedes Mal trug sie eine andere Jacke. Jedes Mal lachte sie. Über mich, sobald sie mich bemerkte. Alle glotzten mich deshalb an. Ich wandte mich ab. Ihre Haare trug sie dunkelbraun. Nur ein einziges Mal waren sie hennarot wie früher. Dazu trug sie eine rote Jacke. Irgendwo in der Altstadt war das.
Mein Mund ist trocken, das Bier lauwarm. Von einem alten Busticket reiße ich mir einen Streifen ab, rolle daraus einen Filter und stecke ihn mir schon mal zwischen die Lippen. Die Aussicht auf den Joint flasht. Macht mich zapplig.
Easy Mann, hat Erik gesagt, heute Abend, als er im Zeitlupentempo den Test-Joint baute. Es sei schon mal einer beim Bauen gestorben, habe ich gemotzt.
Irgendwie schaffe ich es endlich, die Mischung auf das gefaltete Papierchen zu streuen, den Filter zu montieren und die Tüte zuzukleben. Endlich. Der erste Zug schmeckt einfach nur süß. Und bitter. Weich. Zärtlich, wie eine Umarmung.
Christa hat es gehasst, wenn ich drinnen rauchte. Wir einigten uns auf den Dunstabzug über dem Herd, wenn es draußen zu kalt war. Doch die Küchentür musste dabei geschlossen sein.
Hier spielt sowas keine Rolle. Diese Bude ist sowieso sanierungsbedürftig. Und Christa ist nicht da. Oder doch? Ihr Gesicht erscheint neben mir. Als Dia auf der weißen Wohnzimmerwand. Ich muss lachen, kann kaum mehr aufhören. Ihre Stirn hat sie gerunzelt. Ich strecke ihr die Zunge raus. Mir egal, hörst du, Christa! Mir egal, wie du guckst, was du machst, denkst, tust, mit wem du rumvögelst und wie es dir geht. Und ob du in der Stadt über mich lachst und auf mich zeigst. Ob du mich angaffst oder nicht.
Lass mich endlich in Ruhe!
Das Bier schmeckt eklig. Der Rauch meiner Tüte brennt in den Augen. Christa ist weg. Das Fenster kommt näher. Das Licht meiner Deckenlampe wirft einen Heiligenschein über mein Gesicht, das sich im Glas spiegelt. Ich glotze mich an. Das bin doch nicht ich. Glotz nicht so. Guck weg. Es geht nicht. Ich strecke ihm die Zunge raus. Das faltige Gesicht lacht mich aus. Er. Ich. Du. Wer überhaupt? An Fäden fest gebunden, marionettengleich hüpfe ich durchs Leben. Noch habe ich die Schere nicht gefunden. Taste nach ihr. Finde sie nicht. Gaffe noch immer diese Maske an. Ich lache. Guck doch weg, du! Natürlich, das bin ich. Mein Nicht-Ich. Mein Nacht-Ich. Weg mit dir.
Ich finde die Schuhe nicht, die passen. Hier nicht. Nirgends. Weil es sie nicht gibt. Nicht für mich, nicht hier.
Der Joint ist zu Ende. Obwohl ich den Filter noch ein bisschen rausgezogen habe, ist nun alles aufgeraucht. Kein lieber Flash, nicht zart. Hart. Kantig. Dunkelbraun. Ockergelb. Ich stehe auf, gehe, Fuß vor Fuß setzend, zur Anlage. Das kostbarste Teil in meiner Wohnung.
Ich ziehe Goa aus dem CD-Turm. Christa mochte sie nicht, diese Scheiben. Scherben meines Lebens. Endlich schaffe ich es, den Silberling aus der Box zu klauben. Goa Tribes. Ich bringe dem Knopf bei, dass er die Schublade ausfahren soll. Und endlich weiß ich wieder, welcher Finger meiner rechten Hand welche Taste drücken muss, damit die Musik aus den Boxen dröhnen kann.
Ich schaffe es sogar, die Vorhänge zuzuziehen und die Fratze auszusperren. Tief graben sich die Falten der Nacht über alles, decken zu, decken auf. Will sie nicht hier drin haben. Nicht Christa und nicht dieses Nachtgesicht. Ich will zum Sofa und beschließe auf der Musiknebeldecke hinüberzuschwimmen. Ans Ufer. Mein Wohnzimmer ist das Meer. Dehnt sich aus. Ich tauche unter, tauche auf. Sehe endlich wieder farbig.
Ich segle, surfe, schwimme. Tanze. Musik fließt durch meine Adern. Ich lache vor mich hin. Der harte Schlag der Musik resoniert mit meinem Herzschlag. Ich hebe ab, die Hände und Arme schwingen durch die Luft. Ich schlage zu. Rotgrauer Punchingball, wo vorher keiner hing. Da, und da, und da. Die Drums geben mir den Takt vor. »Demons In My Head«. Endlich schlage ich zurück. Zuerst kommen die von der Bude dran. Jetzt die von der Klinik. Christa. Mein Vater. Damit er mich endlich ernst nimmt. Nun meine Mutter, die mich ständig bemitleidet und immer zu wissen glaubt, was ich brauche. Und die sich für mich schämt. Und wieder mein Vater. Da. Und da. Für dich. Ich schlage zu und sehe sein überraschtes Gesicht an der Wand. Er zieht den Kopf ein.
Wieder Christa. Lass mich endlich in Ruhe, du! Da! Für dich. Ein Klopfen durch die Wand vermischt sich mit meiner Musik. Von unten. Oder von nebenan.
Schön, die mögen meine Musik! Endlich mal was Erfreuliches. Ich muss wieder lachen und klopfe zurück. Als Dank und Gruß. Absurd, das Leben! Wieso bin ich noch nie darauf gekommen, sie alle mal zu verprügeln? Nicht richtig natürlich, ich bin ja nicht gewalttätig. Nur so zum Schein, um ihnen alles zurückzuzahlen. Damit sie wissen, wie weh es tut, das Leben.
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© by Denise Maurer
erschienen in: Nachtfalter im Wortkuss-Verlag, 2010
ISBN: 3-94202-605-8