Womöglich

»Möchtest du noch was trinken?«, fragt sie, als er vor ihrem Haus einparkt. Nullachtfünfzehn vom Gröbsten! Rona beißt sich auf die Zunge. Minus fünfzig Punkte!

»Ich habe gehofft, dass du das fragst«, sagt Marius. »Ja, gerne!«

Alles Zeitlupe jetzt. Wie im Film!, denkt Rona und sieht Marius zu, wie er den Schlüssel dreht. Wie er ihn aus dem Schloss zieht. Wie er das Licht löscht und die Handbremse fixiert.

Zwei Stunden zuvor sind Marius und Rona vor dem Trubel des Festes auf Klaus‘ Dachterrasse geflüchtet. Rauchend haben sie die bei Tisch begonnene Unterhaltung weitergeführt und sind dabei tiefer in ein angeregtes Grübeln über Gott und die Welt eingetaucht. Wie ein Seebad in einer heißen Sommernacht, denkt Rona zuweilen, wenn sie solche Gespräche führt. Natürlich hat sie Marius‘ Einladung gerne angenommen, sie nach dem Fest heimzufahren. So konnte sie auf den Nachtbus verzichten. Unmöglich, dieses Angebot abzulehnen. Beim Dessert hat sie seinen Unterschenkel an ihrem gespürt. Und das Erwachen der Schmetterlinge, die zwischen Herz und Bauch herumzuflattern begannen. Außerdem die Stimme in ihrem Innern. Lust ist eine heimtückische Falle! Rona, pass auf!

Vielleicht ist diesmal alles anders? Vielleicht ist er ja anders? Und warum nicht den Sprung ins Leben wagen? Leben ist riskant!

Leise gehen sie zu ihrer Wohnung hoch. Können wir uns verlieben, ohne von blendenden Trugbildern getäuscht zu werden, fragt sich Rona im Treppenhaus. Lassen die Hormone mit sich tanzen, ohne dass wir dabei Illusionen und Bedürfnisse auf unser Gegenüber übertragen? Sie beschließt, sich bedeckt zu halten. Verbietet sich, ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn will. Selbstschutz. Trotz der Sehnsucht, dem Wunsch, sich fallen zu lassen, sich zu vergessen. Dennoch drängt alles in ihr nach jenem Rausch, jener Entrücktheit, jener Glückseligkeit. Schweißnass. Außer Atem. Sprachlos. Aus Zeit und Bahn geworfen.

Sie dreht das Licht an.

»Willkommen in meiner Höhle!«, sagt sie und beobachtet seinen Blick. Er schaut sich um und scheint sich wohlzufühlen.

»Was trinkst du? Kaffee? Wein?«

»Dich!« Er lächelt.

Hat er das wirklich gesagt? Was ist es, was mich an ihm anmacht? Er sieht völlig unspektakulär aus. Klar, seine hellbraunen, lockigen Haare gefallen ihr und sie hat Lust, in ihnen zu wühlen. Sie mag auch die fast schwarzen Augen und die vollen Lippen. Ach ja, im Moment interessieren sie vor allem seine Lippen. Rona küsst gerne. Als Antwort blinzelt sie nur, mehr geht nicht. Soll sie ihn gleich küssen oder doch lieber erst Kaffee aufsetzen? Das Eroberungsspiel ausdehnen? Das Warten und die Spannung in die Länge ziehen? Sie steht noch immer zwischen Küche und Schlafzimmertür im Flur.

»Soll ich dir die Jacke abnehmen?« Sie deutet auf den Sakko auf seinem Arm und wirft einen Blick Richtung Garderobe.

»Was immer du willst. Das Hemd und die Hose auch gleich …« Marius spielt mit. Wieso stören mich diese Macho-Sprüche bei ihm nicht? Weil er kein Macho ist, vielleicht? Und warum ist er kein Macho? Weil ich nicht will, dass er einer ist! Basta. Minus hundert Punkte für mich!, schilt sie sich. Abzug für ihr hartnäckiges Festhalten an einer Illusion oder zweien.

»Lass uns zuerst etwas trinken und auf dem Balkon eine Zigarette rauchen.« Ronas Stimme klingt cooler, als ihr zumute ist. Soviel wie heute Abend qualmt sie sonst nicht. Ob er die Betonung des Wortes zuerst bemerkt hat?

Sein Schmunzeln bestätigt ihr, dass er weiß, dass sie weiß, dass sie es beide wissen und wollen. Alles klar.

Ruhig atmen, Rona. Denken ausschalten. Genusssensoren einschalten. Ob meine Kabelbrandschäden in der Zwischenzeit repariert sind? Hör jetzt endlich mit Grübeln auf!

Bald blubbert der Kaffee vor sich hin und kurz darauf sitzen sie auf dem Balkon, die Tasse in der einen, die Zigarette in der anderen Hand. Die Luft zwischen ihnen knistert. Sich wieder fünfzehnjährig zu fühlen. Schüchtern beide. Stoßen grinsend mit den Kaffeetassen an. Küssen sich. Ein Hauch nur. Er drückt die eben entzündete Zigarette aus und streichelt scheu über ihre Haare.

Sie stellt ihre Tasse auf den Bistrotisch und liebkost sein Gesicht mit den Fingerspitzen. Ihre Lippen berühren sich von Neuem. Schwierig nur, dass beide noch etwas in der Hand halten. Lachen steigt hoch. Er stellt seine Tasse neben ihre, während sie ihre Zigarette ausdrückt.

Jaaa, er küsst gut! Plus hundert Punkte! Dann hört sie zu grübeln auf.

Im Schlafzimmer kleiden sie sich hastig aus und umarmen sich splitterfasernackt im Stehen. Haut auf Haut. Ausgehungert fallen sie übereinander her. Wild das erste Mal. Später, unter die Decke gekuschelt, fangen sie von vorne an. Diesmal langsamer, behutsam. Zwei Forschungsreisende. Rona liebt es, wie zärtlich er sie dabei betrachtet. Sie hat, entgegen ihrer Gewohnheit, die Augen geöffnet. Das Kerzenlicht wirft Schatten an die Wände und verzaubert ihre Haut, lässt sie leuchten, schimmern. Außerirdisch, ja, überirdisch fühlt sich ihr Höhenflug an. Genuss pur. Sie spürt, was er mag. Sie sagt, was sie mag. Sie fühlt sich gut. Ganz. Nach endlosen Stunden auf offener See legen sie an und dösen eng umschlungen ein.

Rona erwacht, weil sie pinkeln muss, und setzt sich danach im Bademantel auf den Balkon. Es ist warm. Auf dem Bistrotisch liegt – heute Nacht in Gesellschaft zweier voller Espressotassen – ihr Schreibblock. Ihr Netz, um flatternde Gedanken einzufangen. Im Licht der Straßenlampen kritzelt sie vor sich hin.


Nachtfalters Werben

erwartungsvoll
umgarnt er
das Licht
geblendet von
so viel
Ausstrahlung
gefährlich
heiß
tödlich
er kann
es
nicht lassen
zischend
verbrennt er
vielleicht


Zynische Liebesgeschichte könnte ich diese Zeilen nennen. Bin ich Falter oder Licht? Will ich mich auf Risiken einlassen oder suche ich Scheinsicherheit? Gibt es dazwischen nichts? Liebe gar? Womöglich leben ja auf diesem Planeten doch noch ein paar gute Männer. Womöglich ist Marius einer davon und es ist an der Zeit, ein neues Drehbuch zu schreiben. Womöglich wartet, hinter dem Vorhang der Verliebtheit, die wahre Liebe auf mich. Obschon ich sie mit meinem fortwährenden Zynismus, der doch bloß meine Angst tarnt, bisher erfolgreich in die Flucht geschlagen habe.

Ach, vergiss es, Rona, das gibt es nur im Märchen.

»Glücklich ist der Mensch, der bei sich selbst zu Hause ist«, sagt ihre Freundin Luzia bisweilen. Das ist es, was Rona endlich will: Glücklich sein. Und frei. Von einem Mann unabhängig. Ohne sich dauernd anzupassen oder sich auf Kompromisse einzulassen.

»Ist die Lust vorbei, kann die Liebe erwachen«, hat sie neulich in einem Artikel gelesen. Sie fröstelt. Augenblicke später kuschelt sie sich an Marius’ Rücken. Jetzt ist jetzt.

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© by Denise Maurer

erschienen in: Nachtfalter im Wortkuss-Verlag, 2010
ISBN: 3-94202-605-8

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