Julia und Edith | Eine Lebensgeschichte

1 Julia

Ich säe Berge, sagte sie. Klein wie sie war, musste sie sich dazu nicht tief bücken. Kieselstein um Kieselstein legte sie in die warme Erde. Wie ihre Großmutter neben ihr hatte sie zuvor mit dem Setzholz eine Schneise gezogen. Bald würden hier Berge wachsen. So wie aus Apfelkernen Apfel- und aus Nüssen Nussbäume wurden.

Samstagmorgen. Mit der Kaffeetasse in der Hand wandert Julia durch Großmutters Garten. Längst ihr Garten. Oma und Opa sind schon lange tot, Berge keine gewachsen, doch Steine mag sie noch immer. Gesteinsschichten. Geschichten.

Meine Lebensgeschichte ist nichts anderes als das Umschichten von Erfahrungen, geht es ihr durch den Kopf. Kleines wird groß. Großes schrumpft. Und Unkraut wächst ohne zu fragen. Im Steingarten setzt Julia sich hin. Auf sonnengewärmte Erde.

Jeder Stein steht für einen Abschnitt meines Lebens, denkt Julia. Schichtet Steine um. Dieser hier – glatt und spitzzulaufend – erinnert sie an den vergangenen Sommer voller Aufbrüche und Neuanfänge. Und der hier an den beschwerlichen Frühling. Kantig ist er. Liegt ihr schwer in der Hand. Julia wählt aus. Wünscht sich flache, glatte Steine. Wie einfach es wäre, das Leben. Das Steintürme-Bauen. Doch in ihrem Garten sucht sie den perfekten Stein vergeblich. Es gibt ihn nicht. Alle sind vollkommen.

Sie schichtet Stein auf Stein. Wackeliger Turm. Stürzt ein. Immer wieder. Und immer wieder fängt sie von vorne an. Kombiniert neu. War es der letzte Stein, der den Turm zum Einstürzen brachte? Vielleicht der drittletzte? Der erste gar? Egal. Einstürze sind erlaubt. Scheitern darf sein. Kaputt gehen dabei einzig und allein ein paar Illusionen. Nicht mehr. Nicht weniger. Fallende Steine gehen nicht kaputt. Sie verändern nur ihre Lage.

Einsturz ist Erfahrung, denkt Julia, Balancieren ein dynamischer Prozess. Und Wackeln inbegriffen. Stein auf Stein zu legen erfordert die Gesetze der Schwerkraft zu spüren. Ein Berg wächst. Gesät vor vielen Jahren. Von kleinen Kinderhänden.

Während sie mit einem reifen Kürbis in den Händen zurück ins Haus geht, fällt Julia die Geschichte wieder ein, die ihr Dorothee neulich in der Arbeitspause erzählt hat. Vom hungrigen Mann. Außer seinem Saatgut hatte er nichts mehr zu essen gehabt. Für einmal dachte er nicht an Morgen. Außerdem war seine Lust auf junge Kartoffeln und frischen Getreidebrei unwiderstehlich. Drei Monate warten bis zur Ernte war ihm zu lang. Also kochte er sich eine wunderbare Mahlzeit. Am nächsten Tag erneut. Und auch am übernächsten. Bis seine ganze Saat in seinem Bauch verschwunden war.

Dorothee hatte die Geschichte von Sara. Die arbeitet als Entwicklungshelferin dort, wo sich die Geschichte ereignet hat. Dorothee war empört. Wie konnte er nur, dieser Mann! Dachte nur an sich! Später habe er bei den anderen Leuten in seinem Dorf um Hilfe gebeten. Und erhalten. Das sei doch nicht gerecht! Was er gemacht habe, ebenso wenig, wie dass die anderen ihm geholfen hätten. Saat gehöre in die Erde. Damit sie wachsen könne. Damit sie eines Tages Ernte einbringe. Wo kämen wir denn hin, wenn niemand säen würde? Wenn alle glaubten, die anderen würden schon schauen!

Ist denn die Natur gerecht?, hatte Julia gefragt. Ist sie nicht vielmehr grundsätzlich übersprudelnd und nährt und kleidet, die nicht gesät haben? Die Lilien auf dem Felde. Du weißt schon. Wir verstehen selten, warum es mal so und mal so ist. Auch mag ich von Saat bis Ernte nicht linear denken. In der Natur gibt es keine geraden Linien. Immer kommt etwas dazwischen. Ein Wurm. Ein Sturm. Etwas, dass das Wachstum bremst.

Dorothee hatte mit den Schultern gezuckt, auf die Uhr geschaut und war aufgestanden. Fertig Pause.

Kaum hat Julia den Kürbis auf dem Küchentisch gelegt, klingelt das Telefon. Wie schön! Ihre Patentochter.

2 Edith

Wohin damit? Verbrennen? Edith zögert.

Nun mach schon vorwärts!, ermahnt sie sich selber. Bis Samstag musst du fertig sein! Und diese Briefe hier sind ja eigentlich nur Ballast.

Übermorgen wird sie ausziehen. Zwar sind ihre Eltern okay, doch nun, wo sie ihre erste Arbeitsstelle als Gärtnerin angetreten hat, will sie auf eigenen Füssen stehen.

Edith kann nicht anders. Blättert sich rückwärts durch die Jahre. Staunt, wie alt einige der Briefe und Karten sind. Fotos zwischen den Umschlägen. Eine scheinbar glückliche Vierzehnjährige lacht ihr entgegen. Wie anders die Erinnerung.

Da findet sie einen alten Umschlag mit Julias Schrift. Sie klaubt den Brief ihrer Patentante aus dem Umschlag.

Liebe Edith

Was jüngst in deinem Leben geschehen ist, beschäftigt mich sehr. Denn du bist für mich ein ganz besonderer Mensch. Was immer du ausgefressen hast, ich stehe zu dir.

Mein Weg in die Welt der Erwachsenen war wohl ebenso mühsam wie deiner. Auch ich bin oft ziemlich unsanft gelandet. Meist habe ich mich als Fremdling in dieser Welt wahrgenommen. Das ganze Leben eine einzige unbegreifliche Algebra-Stunde und ich darin als Zahl in einer Gleichung, die nicht aufgeht. Die Mauer zwischen mir und den Erwachsenen war unüberwindbar und natürlich wollte ich sowieso nie so werden wie sie.

Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Irgendwann habe ich herausgefunden, dass in allen Erwachsenen noch immer jene vierzehnjährigen Kinder stecken, die sie waren! Viel zu oft verstummt und vergessen.

Ja! Auch in mir steckt es noch, diese eigensinnige Mädchen. Die übermütige achtzehnjährige Frau ebenfalls. Und auch die Fünfundzwanzigjährige. Damals fand ich, als ich meine Sachen aufräumte, einen Brief meiner Patentante in meinem Nachtschrank. Einen ähnlichen Brief, wie du ihn jetzt liest. Sie hatte ihn mir geschrieben, als ich so alt war, wie du heute.

Damals war es mir ziemlich mies gegangen. Ich hatte zu kiffen angefangen. Offenbar sind wir uns da sehr ähnlich, liebe Edith. Und auch ich hatte meiner Mutter hin und wieder Geld aus dem Portemonnaie geklaut.

Ehrlich gesagt war ich erleichtert, als das Ganze nach ein paar Wochen aufflog. Obwohl es schrecklich und peinlich war. Ich musste, wie du, das geklaute Geld restlos zurückzahlen. Ferienjobs – du weißt schon.

Wie eine kleine Blume war ich gewesen, damals. Kurz vor der Blüte. Die vierzehnjährige Julia lechzte nach Sonne, nach Wasser, nach bewundernden Blicken. Und nach Aufmerksamkeit, nach Geborgenheit. Nach Liebe. Bekommen habe ich nur einen Bruchteil von alledem. Die meisten Blumen, die meisten Menschen wachsen nicht unter optimalen Bedingungen heran. Das Leben ist nicht ideal.

Heute gestalte ich dennoch mein Leben so, dass ich gedeihen kann. Ich bemängle nicht mehr, was mir für das perfekte Wachstum fehlt, gebe mir stattdessen selber, was ich brauche und akzeptiere das Unvollkommene.

Liebe Edith, obwohl das Leben nicht ideal ist, ist es dennoch lebenswert. Trotz allem. Ich wünsche dir den Mut, das selber herauszufinden.

Herzlich, Deine Julia“

Nein, diesen Brief wird sie ganz bestimmt nicht verbrennen, beschließt Edith. Und dass sie bald ihre Patentante anrufen wird.