Die Leute blicken sich um. Geflüsterte Worte hängen im Raum, Tränen werden aus den Augenwinkeln gewischt und jemand schnäuzt sich die Nase. Die Gruppe Verwandter ist klein. Im Gegensatz zu den vielen Leuten, die offensichtlich zu Judiths Freundeskreis gehören. Viele kennen sich von den Festen, zu denen Judith ab und zu eingeladen hat. Heute steht ein anderes Fest an. Die Gäste haben vor einigen Tagen die eidottergelben Briefe in ihren Briefkästen gefunden. und gelesen. Unglaublich! Ausgerechnet Judith!
Das Musikstück, das aus den Lautsprechern ertönt, ist unüblich für einen Anlass wie diesen. Doch es passt perfekt zu Judith. Blues. Die Saxophonklänge weben sich unter die Haut.
„Es wird gemunkelt, dass Judith sich das Leben genommen hat. Weißt du mehr?“, fragt Thomas Pia. Er flüstert. Beide haben zusammen mit Judith studiert und über all die Jahre den Kontakt aufrecht erhalten. Thomas weiß, dass Pia mit Judith näher befreundet war.
„Wer weiß das schon? Auch ich habe Judith wohl nicht wirklich gekannt. Du weißt ja, wie sie war. Oder jedenfalls wie sie wirkte. Extrovertiert und quirlig nach außen, nach innen unfassbar. Es war jedenfalls ein Selbstunfall. Falls du das hören willst. Sie war allein auf der Straße. Nach Mitternacht. Die Straßen trocken. Möglich, dass sie am Steuer eingeschlafen und dabei in die Leitplanken gerast ist. Von Tabletten keine Spur. Ein klein wenig Alkohol muss sie getrunken haben, doch nicht genug, um die Kontrolle zu verlieren. Außerdem war sie eine sichere Lenkerin …“. Die Tränen hängen fest und die Musik wird leiser. Stille.
Patricia, eine andere Studienfreundin, heute Psychotherapeutin, tritt an die Kanzel. Das Sprechen fällt ihr schwer. Sie weist darauf hin, dass sich Judith eine unkonventionelle Abdankung, will heißen, eine ohne Pfarrer, gewünscht habe.
„Wie es auf der Todesanzeige steht,“, sagt sie, „hat sich Judith schon immer für ihre Trauerfeier eine Art Erinnerungsfest vorgestellt. Wir erzählen uns gegenseitig Erlebnisse, die wir gemeinsam mit Judith hatten. Und Erinnerungen …“ Patricia räuspert sich ihre Tränen und den Kloß im Hals weg. Es bleibt beim Versuch. Doch davor werde sie eine Geschichte vorlesen, die Judith vor ungefähr einem Jahr geschrieben habe. Mit belegter Stimme liest sie vor.
„Diesen feinen Nebel zu durchschreiten, der die Haut durchdringt und feucht darunter liegen bleibt. Wie ein Vorhang. Durchlässig und schützend. Danach die Augen zu öffnen und festzustellen, dass ich noch da bin. Da und nicht da. Ich setze mich auf.
Der Raum, in dem ich mich befinde, wird von Oberlichtern sanft erhellt. Tageslicht, sagt meine Erinnerung. Morgendämmerung. Ich verlasse die Liege und stelle fest, dass mein Körper, diese Hülle, die ich bis vor kurzem bewohnt habe, darauf liegen bleibt wie eine Schlangenhaut. Sollte mich dies beunruhigen? Der Nachhall an einen Aufprall steigt auf. Meine Hülle, die ich betrachte, zeigt denn auch dunkle Flecken im Gesicht und an den Armen. Woran mein Körper gestorben ist, weiß ich nicht. Ich erinnere mich an Schmerzen im Unterleib und im Herz. Mehr nicht. Gut so.
Auf den anderen Liegen lassen sich weitere Körper ausmachen. Mit weißem Leinen zugedeckte. Ob der Raum kühl ist, kümmert mich nicht. Ich habe keine Fragen mehr. Diese gehören ins Jenseits des Nebels hin. Alles in und um mich ist in Licht getaucht, das nur vage dem Licht aus den Oberlichtern ähnelt. Es ist dichter. Das alte ist nur ein Abklatsch des neuen. Himmel bin ich. Gestilltes Heimweh. Ich bin. Ich bin ganz.
Das Ende der Begrenztheit durch die Hülle des Körpers. Meine Seele hat Raum. Dehnt sich aus. Übersprudelt grenzenlos.
Ich gleite durch die Mauern ins Freie. Finde mich auf einem schmalen Streifen Gras wieder, der das Gebäude umsäumt. Die Feuchtigkeit des Taus kann ich nicht empfinden, doch ich erfreue mich am Funkeln der Tropfen. Nun gleite ich über die Straße. Die Leute, die hektisch an mir vorbeihetzen, nehmen keine Notiz von mir. Ich sehe unter ihre bunte Haut. Bin pures Leben. Jetzt sehe ich hinter den Vorhang. Sehe ihre Lasten. Und sehe ihre nur für mich sichtbaren Begleiter, die mich im Vorbeigehen grüßen. Sie versuchen, den Menschen beim Tragen zu helfen. Meist vergeblich.
Ich schwebe weiter. Über den Fluss. Erkenne wunderschöne durchsichtige Gestalten, die sich vergnügt im und über dem Wasser tummeln. Auf der anderen Seite des Flusses, während ich über Sand und Steine schwebe, bemerke ich weitere Gestalten, die in den Büschen, Blumen und Bäumen sitzen. Die Seelen der einzelnen Pflanzen.
Eine alte Frau sitzt auf einer Bank, nahe am Ufer. Sie weint leise. Ich spreche sie an, setze mich neben sie. Sie hört mich nicht. Um so deutlicher höre ich ihre Gedanken, sehe ihre Verbitterung. Vor kurzem ist ihr Mann gestorben, mit dem sie sechzig Jahre zusammen gelebt hat. Ich bedaure sie für ihre Traurigkeit und für ihre Einsamkeit. Nicht jedoch für ihren Verlust, denn ich weiß: Nichts und niemand geht verloren. Alles verändert sich bloß. Sie wird ihn wiedersehen, wenn auch anders, als sie es sich vorstellt und herbeisehnt. Ich hauche ihr eine große Portion Mut zu. Davon habe ich im Überfluss. Als ich mich von der alten Frau verabschiede, leuchtet ihr Gesicht auf. Als sei ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke gedrungen.
Die Last der Welt, die ich mir früher – jenseits des Nebels – aufgeladen hatte, ist weg. Wozu bewerten? Keine Ahnung mehr, wieso ich das früher immer tat. Lächelnd nehme ich wahr, was ist. Betrachte alles um mich her.
Weiterschwebend entdecke ich ein kleines Mädchen. Es sitzt auf dem Rinnstein. Das Gesicht auf die Knie gelegt, weint es. Ich empfinde Liebe, setze mich neben das Mädchen und warte. Es setzt sich auf und blickt mich an. Seine Augen leuchten.
‚Kannst du mir helfen?’, fragt es mich. ‚Ich habe darum gebetet, dass mir jemand hilft!’
‚Wenn es etwas ist, dass ich tun kann, helfe ich dir gerne’, sage ich. Ich zögere, denn ich bin wohl keine dieser Feen, die drei Wünsche erfüllen.
‚Tistinchen ist weg. Meine kleine weiße Katze, weißt du. Mama und Papa meinen, dass sie sich verirrt hat. Oder unter ein Auto gerannt und nun tot ist. Ich glaube das nicht. Sie lebt und sucht mich. Ich vermisse sie so sehr …!’ Das kleine Mädchen schnieft nun wieder mit tränennassen Augen und putzt sich die Nase mit dem Ärmel seiner rosa Bluse ab. ‚Du kannst mir bestimmt helfen!’
‚Warte hier auf mich, ich werde sie suchen!’, sage ich, Ich gleite durch die Straßen. Über die Stadt. Durch die Büsche. Durch die Quartiere. Mein Herz verbindet sich mit Tistinchen. Sie ist in einer Garage eingesperrt. Sie miaut, sie wolle zu Larissa. Nach Hause. Ich versuche das kleine Fenster in der Seitenwand zu öffnen und bin nicht überrascht darüber, dass es mir gelingt. Tistinchen springt heraus und hüpft neben mir her. Sie miaut Dankeschön. Larissa und Tistinchen freuen sich sehr.
‚Ich habe ja gewusst, dass es Engel gibt! Vielen Dank!’, sagt Larissa. Oh, ein Engel? Bin ich das? Ich lache.
Schließlich schwebe ich an einem Haus vorüber, das mir vertraut vorkommt. Mein Wohnhaus. Meine Wohnung. Auf dem Sofa sitzt mein Partner, in Tränen aufgelöst. Eine meiner Freundinnen sitzt ihm gegenüber. Auch meine Eltern sind da. Sie reden über mich und jenen Unfall, der mich, wie sie sagen, mein Leben gekostet hat.
‚Hey, Ramon’, sage ich. ‚Mir geht’s gut!’ Ich streichle ihm über den Rücken. Er richtet sich auf und sagt: ‚Hm, ich weiss nicht recht … ich glaube, dass es Anna gut geht, wo immer sie jetzt ist. Sie hatte ja keine Angst vor dem Tod. Sie sagte oft, dass Seelen nicht verloren gehen!’ Die anderen nicken zustimmend und erinnern sich an schöne Erlebnisse mit mir, die sie nun miteinander teilen. Die Stimmung verändert sich. Meine Freundin lacht sogar, während sie eine besonders lustige Geschichte erzählt. Ich freue mich über ihr Lachen.
Ich schwebe durch die Tage. Auf dem Friedhof treffe ich weitere Gleiter wie mich. Doch nicht alle hier sind friedlich. Einige umarmen mich und wir fühlen uns sofort vertraut miteinander. Andere gucken weg, wollen keine Gleiter, keine Toten sein. Meine neuen Freunde nennen sich Begleiter. Der Gedanke gefällt mir: Menschen zu begleiten. Die Zeit als Anna ist vorbei.
Eine Menschengruppe kommt näher. Alle weinen. Nun erkenne ich Ramon, meine Freunde und Freundinnen. Auch meine Eltern und andere Verwandte sind gekommen. Sie tragen meinen Kokon in einem hölzernen Sarg zu Grabe. Ich tanze um sie herum. Mache mich bemerkbar. Winke ihnen zu, um ihnen zu zeigen, dass es mir gut geht. Diesmal scheint mich niemand wahrzunehmen. Sie weinen.
‚Weint nicht! Hier bin ich! Mir geht’s gut!’ Die kleine Tochter meiner Cousine sieht auf. Sie winkt mir zu. Ihr Gesicht leuchtet auf. Die Tränen trocknen. Ich beschließe, sie ab jetzt zu begleiten.“
Patricia hat zu Ende gelesen. Die Stille im Raum vibriert und das Räuspern und Schnäuzen klingt leichter als zuvor. Mundwinkel wandern aufwärts und Augen mögen wieder strahlen.
„Ich habe dir doch gesagt, dass es Engel gibt, Mama. Hier drin und draußen auf dem Friedhof hat es ganz besonders viele!“, sagt Judiths zehnjähriger Patensohn Timo, der mit seiner Mutter in der zweitvordersten Reihe sitzt. Er flüstert, doch alle können ihn hören.
Aus den Lautsprechern erklingt ein weiteres Musikstück. Harfe und Flöte. Heiter irgendwie. Wie Judiths Lachen.
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© by Denise Maurer
erschienen in: Feier-Tage, Edition Literaturinsel, Engelsdorfer Verlag 2009
ISBN: 3-86703-976-3