Vor zwölf Jahren kam ich zum ersten Mal mit Speckstein in Berührung. Wortwörtlich. Ich lebte damals in einer Lebensgemeinschaft im Haute Jura, Frankreich. Eine Freundin und ein Freund, die mit uns dort lebten, führten einen kleinen Schnitz- und Schleifworkshop durch.
Die Tische waren reich gedeckt. Großen und kleine Steine lagen zur Auswahl bereit. Werkzeuge ebenfalls. Sägen, um die Steine auf die gewünschte Größe zuzuschneiden. Raspeln und Feilen aller möglichen Größen. Schleifpapier. Von trocken bis nass. Von grob bis fein. Verzaubert berührte ich einen Stein nach dem anderen. Ließ mich berühren. Wählte einen Stein. Ließ mich von einem Stein auswählen, denn das kommt der Sache schon näher. Ein mehrtägiger Dialog begann. Während ich feilte und schliff, offenbarte mir mein Stein seine wahre Form. Dabei wurde ich zu seinem Menschen. Der Beginn einer Freundschaft. Die Delphinschale, die ich unter den oberen Schichten dieses Steines freilegte, ist noch immer bei mir. Nach dem ich die gröberen Arbeiten abgeschlossen hatte, genoss ich den Feinschliff und das ständige Überprüfen der Oberfläche. Die kühle Glätte, durchbrochen von Einschlüssen und Gesteinsschichten, die natürlicherweise zu meinem Stein gehören, ging mir unter die Haut. Als ich vom trockenen Schleifpapier zum nassen überging und deshalb zwischendurch den Stein ins Wasser legte , stieg eine erste Ahnung in mir auf, wie meine Schale vollendet und mit Harzöl versiegelt, aussehen würde. Glänzend, natürlich. Glatt und geschmeidig. Das ist sie bis heute.
Der Stein ist immer, was er ist. Hat sein Gesicht, seine Gestalt. Und die Fähigkeit, zu wandeln. Ob diese innere Form für Menschenaugen je sicht- und fühlbar wird, ist unwesentlich. Dennoch, wenn er mich auswählt, zeigt er sich bereit, sich mir zu zeigen. Bereit, sich von mir freilegen zu lassen. Der Stein ist der Chef.
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Es war einmal, vor vielen, vielen Jahren, ein kleines Mädchen. Als es in Berührung mit den Buchstaben kam, war es knapp drei Jahre alt. Ja, es berührte sie. War berührt von ihren Kanten und suchte nach dem Rätsel ihrer Macht. Was verbargen sie? Wie war es möglich, dass kleine, meist schwarze Zeichen – in Büchern geschichtet und auf Zeitungen gestreut – die Fähigkeit hatten, Menschen ein Lachen aufs Gesicht zu zaubern? Oder Zorn auszulösen. Diskussionen.
Auf dem Schoß seines Vater begriff es, wie O aussah. Fand ihn nun überall. Zeigte auf ihn, lachte ihn an. Bald wollte es mehr. Mit dreieinhalb Jahren konnte es Persil entziffern, die grossen Buchstaben auf der Waschmittelpackung forderten dazu auf.
Unser kleines Mädchen nannte die Buchstaben allerdings nicht Buchstaben, sondern verpasste ihnen, als Gruppe, selbstverständlich seinen Familiennamen. Was besser passte als dieses unverständliche Gestabbel. So hatte das Mädchen sechsundzwanzig neue Geschwister, noch kleiner als es, die es feinsäuberlich zu unterscheiden lernte, während seine grossen Geschwister – jene aus Fleisch und Blut – in der Schule ähnliches lernten.
Das Mädchen muss ziemlich ätzend gewesen sein. „Zeig mir, wie lesen geht!“ Glücklicherweise spielte seine Schwester gerne hin und wieder Lehrerin.
Eine leise Ahnung, dass die Buchstaben mehr von ihm wollten, als nur gekannt, nur gesehen zu werden, wuchs stetig. Buchstaben forderten seine ganze Aufmerksamkeit und es entstanden Bildergeschichten mit Sprechblasen und kleinen Kommentaren. Das Mädchen begriff, dass die Geschichten schon immer da waren. Oft sogar bereit, sich von ihm in eine Form bringen zu lassen.
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Geschichten zu schreiben ist geologische Feinarbeit, sagt Stephen King in ‚Das Schreiben und das Leben’. Ich zitiere ihn und seine Parabel mit den auszugrabenden Fossilien hier nicht wortwörtlich. Doch ich teile seine Vorstellung, dass Geschichten schon immer da waren. Immer da sein werden. So und anders. Diese und andere. Zugedeckt. Unterirdisch oft. Im Dunkeln. Ob sie darauf warten, ausgegraben zu werden, wage ich nicht zu behaupten. Doch ich wage zu behaupten, dass sie, wenn wir zu finden bereit sind, sich gerne von uns finden lassen. Dass sie uns jenen ersten klitzekleinen Zipfel sehen lassen, der aus der Erde schaut.
… Noch können wir nicht erkennen, welche Geschichten uns dieses kleinen Fitzelchen offenbaren will. Doch Schicht um Schicht tragen wir ab. Mit einer alten Zahnbürste polieren wir die einzelnen Stellen. Entdecken immer mehr Details. Schauen hin. Knöchelchen. Versteinerungen. Formen.
Setzen zusammen. Bannen Bilder auf unsere Bildschirme. In Buchstaben konvertiert. Wissend, dass, was wir schreiben, schon da gewesen ist. Wenn wir mit dem nassen Schleifen begonnen haben, treten die Formen immer deutlicher hervor. Berührung. Hier kantig, dort glatt und fein. Glänzend vielleicht.
Die Geschichte ist. Immer. Hat ihr Gesicht, ihre Gestalt. Und die Fähigkeit, zu wandeln. Eigendynamik. Und Freude an unserer Veredelung. Hoffe ich zumindest. Ob jede Geschichte gefunden und in Form gebracht werden muss, ist unwesentlich. Doch wenn mich eine Geschichte auswählt, sich von mir finden lässt, lasse ich mich ein.
Tja, die Geschichte ist die Chefin.
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Bonus Track
Auch ich bin. Eine Geschichte. Gesichtet. Geschichtet. Ausgegrabenes Fossil. Freigelegte, blankgewaschenen Knöchelchen. Einzelteile. Kieselsteine.
Ich setze zusammen. Staple aufeinander. Erfahre jeden Stein als weitere Schicht meines Lebens. Ich wähle diejenigen, die für meine Zwecke am geeignetsten scheinen. Am liebsten, ich geb’s zu, wären mir viele flache, glatte. Die Suche nach den perfekten Steinen frustriert zuweilen. Deshalb beschließe ich, mich mit den asymmetrischen und kantigen zufrieden zu geben. Sie rutschen weniger. Ich begreife: Den perfekten Stein gibt’s nicht. Nicht so jedenfalls, wie von mir gedacht. Oder besser: Jeder Stein ist perfekt.
Ich schichte. Stein auf Stein. Wackeliger Turm. Er stürzt ein. Immer wieder. Ich fange von vorne an. Wage neue Kombinationen. Ist es der letzte Stein, der den Turm zum Einstürzen brachte? Oder jener, der darunter lag? Der erste gar? Schuldige suchen ist müßig. Jeder Stein ist perfekt. Wie gesagt. Und auch der Einsturz ist in Ordnung. Er zerstört einzig und allein meine Ideen und vergängliche Kreationen. Nicht mehr, aber auch nichts weniger. Die Steine gehen dabei nicht kaputt, sie verändern nur ihren Platz. Wie im Tod. Nichts geht verloren. Alles wandelt sich.
Einsturz und Scheitern können mir nicht wirklich schaden, nein. Einsturz meint Erfahrung. Eröffnet neue Möglichkeiten. Ermutigt dazu, Gleichgewicht finden als dynamischen Prozess anzusehen. So schichte ich immer neu. Wackeln inbegriffen. Stein auf Stein zu legen erfordert, die Gesetzmäßigkeiten der Schwerkraft zu spüren. Verinnerlichtes Wissen manifestiert sich in meinen Händen. Gelassen steht mein Turm da. Wartet auf neue Schichten. Auf den nächsten Einsturz. Auf den letzten Stein. Irgendwann.
Meine Geschichte. Schicht um Schicht. Wie gesagt, der Stein ist der Chef. Der Stein und ich sind eins.
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© by Denise Maurer, 2008