Sofias Sofa

„Guten Tag, ich möchte Ihnen erzählen, wieso ich bei diesem Kurzgeschichten-Wettbewerb mitmache. Ich habe Ihre Ausschreibung im Möbelgeschäft in unserem Dorf gefunden, und der Titel der Geschichte ist mir grad ins Auge gesprungen: Mein Lieblingsmöbel. Da musste ich nicht lange überlegen, denn wenn auch mein Lieblingsmöbel nicht mir, sondern meinem Freund gehört, so ist es dennoch mein Lieblingsmöbel. Ein uraltes Sofa. Wissen Sie, und weil ich dazu noch Sofia heiße, passt das besonders gut zu mir. Findet jedenfalls mein Freund Leo. Aber ich will Ihnen nun verraten, weshalb ich dieses Sofa so mag. (Vielleicht wird’s ja gar keine Geschichte?) Also, ich erzähle Ihnen einfach mal von diesem Sofa. Und wieso es dort steht, wo es steht, nämlich auf Leos großer Terrasse. Er hat es vom Sperrmüll. Nein, das heißt, er sah es am Abend vor dem Sperrmülltag am Straßenrand im Unterdorf stehen. Weil noch keine Abfuhrmarke drauf klebte, dachte er, dass es doch eine gute Idee, eine Glanzidee sogar sei, wenn er es mitnähme und auf seiner Terrasse installiere. Die alten Besitzer hätten bestimmt nichts dagegen, denn sonst hätten sie die Marke sicher schon aufgeklebt. Nicht wahr, das darf man doch?“

Sofia hielt inne und nagte an ihrem Bleistift. Nein, so konnte sie die Geschichte unmöglich erzählen. Sie konnte doch nicht einfach so drauflos schreiben wie bei einem Schulaufsatz. Tatsache war, dass sie gerne schrieb, aber keine Übung darin hatte, eine Geschichte zu schreiben. Briefe, ja, das ging. Darum hatte sie sich gedacht, die Geschichte wie einen Brief zu schreiben. Aber jetzt, wo sie es las, tönte es doch ziemlich banal und kindlich. Und das mit dem Sperrmüll musste sie streichen, es tönte so moralisch. Und weil der Wettbewerb von einem Möbelgeschäft ausgeschrieben war, konnte sie doch auch nicht schreiben, dass das Sofa aus dem Sperrmüll stammte? Na ja, es war ja immerhin auch mal neu gewesen und hatte früher wohl einer Familie als gemütlichen Wohnmittelpunkt gedient.

Nein, sie musste es anders anpacken, und vor allem musste sie erzählen, wieso sie das Sofa so mochte. Denn das war ja nicht nur wegen ihrem Namen. Obwohl … Leo nannte ihre gemeinsamen Feierabendstunden, die sie im Frühling, im Sommer und bis in den Herbst hinein, oft in dicke Wolldecken gehüllt, auf dem Sofa verbrachten, Sofasophierereien. Denn auf dem Sofa hatten sie schon so viele Stunden im Gespräch verbracht. Zu zweit, mit den Kindern, mit Gästen … Hatten auf ihm Probleme gewälzt, hatten sich ihre Sorgen und Nöte erzählt, hatten gespielt, geraucht, gelacht und geweint. Ja, darüber musste sie schreiben.

Sie dachte an den Abend zuvor. Leo und sie waren erschöpft vom Tag, doch noch zu wenig bettschwer, auf dem Sofa gehockt und hatten sich über Sams Besuch unterhalten. Sam, ein alter Freund, war wie schon so oft nach Feierabend auf einen Kaffee vorbeigekommen. Er hatte schon bald mal, wie fast immer, seine Hanftüte und den Tabak hervorgeholt und sich einen Joint gedreht. Je kürzer der Joint geworden war, desto länger waren seine Sätze geworden. Sofia hatte längst nicht mehr genau zugehört. Oftmals wiederholte sich Sam, so dass sie ihren Gedanken erlaubte, selber auf Reisen zu gehen. Plötzlich stand sie wie daneben, sah die drei Menschen auf dem Sofa sitzen. Sah die Verbundenheit der drei so verschiedenen Seelen. Erkannte die Kostbarkeit und zugleich die Nichtigkeit eines Lebens, jeden Lebens, die Verbundenheit. Und begriff, dass Freundschaften die Essenz des Lebens sind. Und dass die Zeit, die sie mit Freunden und Freundinnen verbrachte, eigentlich das kostbarste Gut ihres Daseins waren. Die bestinvestierte Zeit sozusagen. Kaum wahrgenommen, war dieser Impuls auch schon wieder vorbei, und sie saß wieder ganz bei den anderen beiden und lauschte ihren Gesprächen. Leo sprach gerade davon, dass alle Gedanken schon mal da gewesen seien, früher oder auch gleichzeitig, und dass es nichts, aber auch gar nichts Neues mehr zum Denken gäbe. Sam dementierte grinsend: „Du willst also sagen, dass ich lauter Recyclingzeugs oder gar Sperrmüll im Kopf habe?“

Sofia stellte sich dies vielleicht ein bisschen allzu bildlich vor, doch der Gedanke gefiel ihr. „Ja, das glaube ich schon irgendwie … aber nicht nur du, wir alle …. Hey, es haben doch zu allen Zeiten Menschen, wie wir drei hier, zusammen gesessen und sich über den Sinn und Unsinn dieses Erdendaseins Gedanken gemacht. Und? Wisst ihr, was ich glaube? Dass es trotz allem Geleier und allen Thesen und Theorien doch nur um eines geht: um Liebe, um Freundschaft und darum, echt und authentisch zu sein. Sogar wenn wir wütend sind, oder wenn wir mies drauf sind: einfach echt zu sein! Nur so können wir wirklich gesund leben! Und wenn es denn eine göttliche Kraft gibt – ja, daran glaube ich eigentlich -, dann ist sie so umfassend, dass sie uns nicht verurteilt! Sondern dass wir einfach dadurch, wie wir gelebt haben, in die Ewigkeit oder ins nächste Leben gleiten … einfach immer weiter der vollkommenen Liebe entgegen. Und bestimmt haben alle Menschen diese Art Grundwissen in sich. Aber sicher ganz verschieden … weil wir ja alle so verschieden sind.“ Sam runzelte die Stirn. „Ja, das könnte schon sein … dass wir alle im Grunde, so ganz in der Tiefe drin, den gleichen innern Wissenskern haben?!“

Leo klopfte sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Das ist ja wie in der Anatomie: Jede Zelle im Körper hat die gleichen Kerninformationen! Aber alle Zellen haben verschiedene Jobs! Und genau so friedlich wie die Zellen in meinem Körper könnten doch wir Menschen leben? Tja … und wenn ich krank bin? Dann gab’s im Körper wohl vorher eine Art Krisensitzung, und die da drin haben beschlossen, etwas zu finden, um mich zum Umdenken oder Ruhigwerden zu bringen? Na ja, so einfach kann’s vielleicht bei uns Menschen doch nicht sein?“

Nachdem Sam gegangen war, klangen die Gedanken nach. Leo meinte: „Weißt du, ich glaube, ich kann nicht wirklich leben, ohne mir auf die eine oder andere dieser Sinnfragen Antworten gegeben zu haben … aber …“ Er hielt inne, wie um sich innerlich zu überprüfen, ob sein Gedanke seiner Wahrheit entsprach. „Aber weißt du, ich habe schon so oft meine Antworten revidiert, und wenn ich ehrlich bin, kann ich mir nicht vorstellen, dass es nur eine Antwort auf alle diese Fragen gibt. Und ich glaube, ich habe wohl doch auch gelernt, ohne letzte Antworten zu leben.“

Sofia nickte: „Ja, ich auch. Aber für mich gibt’s wohl doch einen Maßstab. Ich will einfach immer mehr in der Liebe sein. Mich, dich lieben. Dann bin ich nämlich ganz fest in mir drin mit dieser göttlichen Mitte verbunden. Die Liebe ist wie diese Birke da drüben. Mal ist sie dem Wind, mal der heißen Sonne, mal den Schneestürmen ausgesetzt. Aber sie ist einfach da, beständig. So will ich leben … und lieben! Vielleicht besteht ja der Sinn des Lebens darin, dass wir am Abend zufrieden mit unserem Tag zu Bett gehen, bereit für schöne Träume und für einen neuen Tag?“ Daran knüpft Leo an: „Ja, einfach Schönheit zu sehen, ohne sie ist alles nix. Wahrzunehmen, was ist. Sichtbares und Unsichtbares. Dankbarkeit! Für den Atem, das Wasser, die Wärme! Und die Nahrung! Aber was ist, wenn dir was davon fehlt? Oooops, ist denn Fülle, ist Mangel, ist Schmerz, ist Glück nur Illusion? Und? Was nährt uns denn wirklich, ich meine, innen drin?“
„Tja, das kann ich nur für mich sagen: In meiner Mitte zu sein, ganz bei mir, wie jetzt, spüren, was mir gut tut. Und drum, mein Schatz, geh ich schlafen!“

Noch immer sitzt sie da, nagt am Bleistift und sucht nach einem Weg, das Sofa, worauf sie sitzt – ihr kleines Lebenszentrum – mit Worten zu beschreiben. Ihr Schiff in andere Gedankenwelten. Und warum es sie glücklich macht, dieses alte Sofa zu besitzen. Ob sie diese Geschichte wohl je schreiben wird?

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© by Denise Maurer

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3. PREIS im Autoren-Wettbewerb 2005 zum Thema „Sinn finden“ der PSI-Tage Basel. Veröffentlichung im gleichnamigen Buch des PSI-Verlages. [Infos hier.]

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