Hinter dem Horizont

Lies mal, Petra! Hab ich soeben in meinem Rucksack gefunden“, sagte ich zu meiner Freundin, die gleich neben der Hütte arbeitete. Ich reichte ihr einen zerknitterten Computerausdruck und eine Postkarte. Die Karte war schnell gelesen. Sie hatte früher an meinem Spiegel gehangen und zeigte einen Regenbogen. Darunter in violetten Lettern: „Hinterm Horizont geht’s weiter“. Petra nahm meine Funde mit hochgezogenen Brauen entgegen. Was sprach gegen eine kleine Pause, wo wir doch unsere Zeit frei gestalten konnten? Sie sah müde aus. Und mager, doch abgemagert waren wir alle. Die Erde unter unseren Füßen urbar zu machen, zehrte an unseren Kräften. Tagelang hatten wir aus Schwemmholz, Steinen, Brettern und weiterem Abfallmaterial ein Haus errichtet. Mehr schlecht als recht verdiente es diesen Namen. Nun waren wir dabei, den Boden herzurichten. Anbauen wollten wir die uns vom Mund abgesparte Dinkel- und Haferkörner und die letzten fünf Kartoffeln. Auch hatten wir ein paar entwurzelte Haselsträucher und junge Eichen wieder eingepflanzt.

Ich hatte Fieber bekommen, doch die anderen drei rackerten weiter. Immer nur liegen, lag mir allerdings nicht. Außerdem war der harte Boden unbequem. So hatte ich meine Habseligkeiten ausgepackt, viel war es nicht, und war dabei auf eine wasserfeste Dose gestoßen. Sie hütete fünf Silberlinge und einen USB-Stick. Zeugen einer verlorenen Zeit. Ganz unten lag, klein zusammengefaltet, ein Computerausdruck. Den Petra soeben überflog.

Inzwischen waren Alexandra und Sabine näher gekommen. Froh um die Pause. Wie es mir gehe, fragte Sabine. Hatten wir bis hierhin überlebt, durfte ich nun nicht an einer banalen Grippe sterben. Wir hatten keinerlei medizinische Hilfsmittel dabei, außer ein paar Aspirin und Pflaster. Mir gehe es ein bisschen besser, sagte ich.

Hört zu! Ich les euch was vor!“, sagte Petra. Sie wedelte mit dem Ausdruck. „Sophia hat das hier eben gefunden. Es stammt, wie ihr seht“, sie färbte ihre Stimme melodramatisch ein, „aus jener vorsintflutlichen Zeit, als es Computer und Drucker gab. „Hört zu …“ Die anderen zwei schnitten Grimassen. Ob sehnsüchtig oder erleichtert, konnte ich nicht ausmachen.

„’Donnerrollen hat mich geweckt. So heftig, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Noch ist es dunkel, doch Blitze erleuchten fast ununterbrochen mein Zimmer. Die Wehen einer Gebärenden kurz vor der Geburt, denke ich und döse wieder weg. Sirenen wecken mich eine Stunde später. Ich taste mich durch den Traumschleier zum Radio. Wasseralarm. Eine neuerliche Überschwemmung im Mattenquartier, sagt die Nachrichtensprecherin. Auch in den nächsten Tagen lässt der Regen nicht nach. Die Aare steigt weiter. Längst sind die Bewohnerinnen und Bewohner aus den tiefer gelegenen Wohnquartieren Berns evakuiert worden. Meine Freundin Sabine hat sich bei mir einquartiert. Nur einen vollen Rucksack hat sie mitgenommen. Mein Quartier gilt als sicher. Seit am neunten Tag die Meldung kam, der Waisenhausplatz stehe unter Wasser, zweifle ich jedoch an dieser vermeintlichen Sicherheit. Noch nie sei die Aare so hoch gestiegen, wussten die Historiker. Nutzlos gewordene Sandsäcke waren zu Grunde gegangen. Und mit ihnen unser Sicherheitsdenken.

Seit dreizehn Tagen regnet es nun ununterbrochen. Wir haben einen Notvorrat an Reis, Teigwaren, Konserven, Tiefkühlgemüse und Schokolade angelegt. Das Bundeshaus ist längst evakuiert worden. Wahl- und Konzertplakate, vom Sturmwind zerfetzt, schwimmen in den braunen Fluten durch die Strassen, höre ich im Radio. Wohin unsere Regierung geflohen ist, wissen wir nicht. Zeitungen gibt es seit zwei Tagen keine mehr. Die Fluten machten auch vor den Druckereien nicht Halt. Ohne Fernseher können wir uns kein Bild der Katastrophe in der Innenstadt machen. Ständig sind Helikopter im Einsatz. Irgendwann hören wir die ersten Todesnachrichten im Radio. Massenhysterie mache sich breit, die in einer Massenflucht gipfle. Viele flüchteten auf den Gurten, Berns Hausberg, wo eine Hilfsorganisation auf der grossen Wiese eine Zeltstadt aus dem Boden gestampft hat.

Noch gibt es offenbar Menschen, die nicht davon rennen, sondern etwas unternehmen, denke ich beschämt. Wir allerdings haben, ich gestehe es, keinerlei Ambitionen in dieser Richtung. Ehrlich gesagt rechnen wir damit, wie die meisten, dass es jeden Augenblick zu regnen aufhört. Und die Normalität wieder einkehrt. Noch regnet es weiter. Am fünfzehnten Tag bricht der Radioempfang ab. Auch vom Telefon-Festnetz sind wir abgeschnitten. Internet ist Vergangenheit. Einzig unsere Handys verbinden uns noch mit der Aussenwelt. Immer häufiger erfahren wir von Ertrunkenen. Die ganze Schweiz steht Kopf – und unter Wasser. Was sage ich da? Ganz Europa! Alle umliegenden Staaten haben den Notstand ausgerufen. Das Wasser steigt und der Regen nimmt kein Ende. Doch noch sind wir in Sicherheit. Ich fahre täglich mit dem Fahrrad zur Wassergrenze und begreife endlich den Ernst unserer Lage. Am einundzwanzigsten Tag hat das Wasser den Loryplatz erreicht. Zwei weitere Freundinnen, Alexandra und Petra, die dort wohnen, tauchen auf. Petras Schwester lebt in den USA. Auch dort regne es wie nie zuvor, sagt sie. Das ist die letzte SMS, die eine von uns empfangen hat, danach ist jeglicher virtueller Kontakt unmöglich. Immerhin haben wir noch Strom. Was werden wir tun, wenn das Wasser weiter steigt? Ertrinken? Verhungern? Flüchten oder warten? Sollte es zur weltweiten Katastrophe kommen, wollten wir Überlebende oder Ertrinkende sein? Wir diskutieren bis tief in die Nacht und trinken die letzte Flasche Wein. Noch habe ich Zigaretten, doch wie lange?

Ich packe meinen großen Rucksack. Lebensmittelvorräte, Trinkflaschen, ein Überlebenshandbuch, Streichhölzer, Messer, Schnur und dergleichen mehr. Und warme Sachen. Die anderen drei malen sich derweilen Szenarien aus. Die Nähe eines möglichen Untergangs stimmt uns wider Erwarten heiter. Alles relativiert sich, Prioritäten werden neu verteilt. Das gemeinsame Lachen verhindert, dass wir durchdrehen. Ich hole die Luftmatratze aus dem Keller. Könnte nützlich sein.

Morgen wollen wir los. Doch wie? Nicht mehr ganz nüchtern fällt es uns schwer, alle Pro und Kontra miteinander zu vergleichen. Mit meinem Auto fliehen? Klein zwar, aber zu viert würde es schon irgendwie gehen. Doch wohin? Auf den Gurten? Mir graut es davor, in einer hysterischen Masse zu landen und tatenlos auf den Untergang zu warten. Wenn wir doch bloß ein Boot hätten!

Wir schlafen zum letzten Mal für möglicherweise lange Zeit in einem Haus. Die anderen haben sich von ihrer Habe bereits früher getrennt. Mir steht es noch bevor. Leicht fällt es mir nicht. Ich mache mir bewusst, dass es allen anderen gleich gegangen ist und dass ich letztlich nichts auf ewig behalten kann. Erinnere mich an die Vergänglichkeit des Lebens. Heute Morgen, dem Tag unserer Flucht, duschten wir uns alle nochmals ausgiebig. Immerhin Wasser hat es reichlich. Jetzt werde ich meine wichtigsten Daten auf CDs und den USB-Stick speichern, diesen Text ausdrucken und anschließend alles in eine wasserfeste Dose packen. Vielleicht werde ich eines Tages froh darüber sein. Oder sonst jemand.

Vielleicht werden unsere Leichen, wie dereinst Ötzi, von einer intelligenten, nach uns kommenden Rasse gefunden und meine Dateien entschlüsselt? Fertig jetzt. Die anderen sind bereit und warten auf mich. Ich wünsche uns eine gute Reise.’“

Keine sagte ein Wort. Petras Augen glitzerten. Sehnten wir uns zurück? Wo wir waren, wussten wir nicht. War es wichtig?

Wie der Rest der Welt aussah, wussten wir ebenfalls nicht. Eines Tages hatte der Regen aufgehört. Es war Frühsommer und wir lebten. Dank einer Kiste voll Konservendosen und der Tatsache, dass Holz leichter ist als Wasser. Sicher, dass wir uns mit Outdoor- und Überlebenstechniken auskannten, hatte geholfen. Doch die größte Triebfeder für unser Überleben war unsere Freundschaft. Jede für sich alleine hätte wohl aufgegeben. Die ferne Zukunft war kein Thema. Weiterleben war angesagt. Was hieß, genug zu essen zu finden. An Wasser fehlte es uns nicht, da ein Bach in unserer Nähe vorbeidümpelte. Das Wasser kochten wir in den leergegessenen Dosen ab.

Auch andere mussten überlebt haben. Natürlich dachten wir oft an unseren Familien und Freunde. Wir weinten und trauerten, keine Frage. Nur änderte es nichts an unserer Lage.

Vermutlich sind mehr Arme als Reiche ertrunken,“ sagte Alexandra. „Denn bestimmt haben sich all die dreckigen Oberbonzen und Mafiosi irgendwo in Sicherheit gebracht und planen nun die Neue Welt!“

Vergiss es! Die haben doch keine Ahnung von Survival. Die wissen doch nicht mal, wie man Feuer macht! Ich glaube eher, dass vor allem einfache Leute überlebt haben. Solche, die anpacken können, die wissen, wie man überlebt …“, sagte Sabine.

Endlos konnten wir darüber reden. Oft schwiegen wir. Immer wieder fanden wir auf unserer Nahrungssuche Ertrunkene. Wir begruben sie, so gut es ging. Zu Anfang wollten wir uns von jedem Menschen, den wir beerdigten, dessen Besonderheiten aufschreiben, doch hatten wir bald kein Papier mehr. Mein kleiner Notizblock war schon nach ein paar Tagen vollgekritzelt. Auch war uns nicht klar, wozu dieser Aufwand gut sein sollte.

Alle, die gerne schreiben, können sich meine Freude vorstellen, als ich eines Tages auf eine Kiste mit Papier stiess. Oh, wem sag ich das? Wer wird das je lesen? Vermutlich die Lieferung für eine Druckerei. Die Papierbögen waren aneinander festgepappt. Es war harte Knochenarbeit, die einzelnen Seiten voneinander zu lösen. Doch endlich konnte ich mit meiner Überlebenschronik beginnen. Bis hierhin bin ich gekommen. Soll ich weiterschreiben? Wenn ja, wozu? Für uns vier? Wir kennen die Geschichte. Wir wissen, wie hart überleben ist. Wir wissen, um die vielen Tränen. Wir wissen, wie sich Ungewissheit und Trauer anfühlt. Wozu soll ich über unser Überleben schreiben? Schluss damit. Leben findet jetzt statt. Heute! Und das feiern wir. Jetzt! Nicht irgendwann. Hier. Hinter dem Horizont.

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© by Denise Maurer

erschienen in: Feier-Tage, Edition Literaturinsel, Engelsdorfer Verlag 2009
ISBN: 3-86703-976-3

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